Dieser Artikel ist in dem Buch „Jammerfasten – Das Buch zur Challenge“ von Peter Beer erschienen. Als ich zum ersten Mal von der Challenge des „Jammerfastens“ hörte, war es wohl auch das erste Mal, dass ich mich mit dem Phänomen des Jammerns bewusst auseinandersetzte. Eigentlich erstaunlich, wo ich als klinische Psychologin doch relativ häufig mit dem Phänomen des Jammerns konfrontiert bin: „Meine Freundin hat schon wieder Stress gemacht!“, „Immer habe ich so ein Pech!“, „Können die anderen nicht mal ein bisschen rücksichtsvoller sein?“, „Wenn ich nur ein bisschen abnehmen würde, wäre ich schon glücklicher“. Was hat es mit dem Jammern auf sich? Wieso jammern wir? Tut es uns gelegentlich gut oder sollen wir vom Jammern besser Abstand nehmen? Hierauf versuche ich in diesem Artikel Antworten zu finden.
Jammern ist eine recht bewährte und häufig genutzte Methode, um die eigenen Probleme zu behandeln. Und in Anbetracht dessen dass so viele Menschen jammern – mich mit inbegriffen – fragte ich mich während der Challenge recht bald, ob das Jammern nicht auch etwas Positives für uns Menschen mit sich bringt? Wieso sonst tun wir es alle? Und würden wir am Ende nicht nur alles in uns reinfressen, was ausgesprochen werden sollte, wenn wir aufhören würden zu jammern?
Wenn wir kognitiven Verhaltenstherapeuten versuchen ein Verhalten dahingehend zu beurteilen, ob es hilfreich oder nicht so hilfreich ist, schauen wir uns vor allem die Konsequenzen der Verhaltensweise an und beleuchten diese im Detail. Dazu ist es besonders wichtig, die Konsequenzen in ihrer kurzfristigen und in ihrer langfristigenWirkung einander gegenüberzustellen. So kann beispielsweise ein Medikament eine sehr nützliche, positive Wirkung zu Beginn einer Therapie aufweisen, langfristig jedoch heftige, unerwünschte Nebenwirkungen nach sich ziehen.
Somit ist es ratsam sich die verschiedenen Wirkungen vom Jammern sowohl auf kurzfristiger, als auch auf langfristiger Ebene anzuschauen, wenn man wissen möchte, wie genau das Jammern sich in unserem Leben auswirkt. Und dabei fällt auf, dass insbesondere auf kurzfristiger Basis ein gewisser Nutzen vom Jammern ausgehen kann: denn beim Jammern erleichtern wir uns und werden unseren Stress mal so richtig los. Wir geben diesen quasi an den Nächsten (an unseren Zuhörer) weiter. Ganz nach dem Motto: „Geteiltes Leid ist halbes Leid“. Interessanter und logischer Nebenfakt hierbei: die kurzfristige Konsequenz für unser Umfeld ist umgekehrt eine Unangenehme. Unser Gegenüber, das passiv angejammert wird, nimmt die Last auf und fühlt sich durch den vorgejammerten Inhalt wohlmöglich belastet.
Zusammengefasst kann man über die kurzfristigen Folgen vom Jammern somit resümieren, dass dies für uns selbst eine schnelle Erleichterung darstellt, für unser Umfeld hingegen einen gewissen Ballast. Gar nicht mal so schlecht, wenn man sich kurzfristig etwas „leichter“ und befreiter fühlen kann. Was sollte daran verkehrt sein, könnte man sich fragen? Wohlmöglich wäre uns geholfen, wenn wir uns einfach ein soziales Umfeld suchen, das sehr empathisch ist, das mit dem Jammern klarkommt und mit uns fühlt, wenn wir Dampf ablassen. In diesem Szenario wäre das Jammern doch keine üble Angelegenheit: wir erhalten Aufmerksamkeit, werden Kummer los und fühlen uns besser – wenn da nicht die langfristigen Folgen wären!
Und das ist der Punkt, an dem wir Psychotherapeuten ziemlich gerne ansetzen: bei den langfristigen Konsequenzen. Bei den langfristigen, unerwünschten „Nebenwirkungen“ unserer Verhaltensweisen.
Das menschliche Verhalten obliegt vielen Regelmäßigkeiten, die gewissen Mustern folgen. Ein recht häufiges Muster, das man insbesondere bei psychischen Erkrankungen finden kann, ist jenes, dass wir Menschen präferiert darauf hinarbeiten uns kurzfristig besser zu fühlen. Dafür dürfen dann auch ziemlich unangenehme Nebenwirkungen auf langfristiger Basis folgen. Macht ja nichts – Hauptsache uns geht es sofort ein bisschen besser! Solche Verhaltensweisen, die ganz kurzfristig lukrativ sind, haben oftmals nur leider auf langfristiger Ebene viele Nachteile, die zum Teil sogar verheerend sein können. So zum Beispiel: Drogenkonsum, Vermeidungsverhalten bei Ängsten, impulsives Brüllen in Konflikten, das Aufschieben von unangenehmen Aktivitäten, etc. All diese Verhaltensweisen folgen genau diesem Muster, dass wir uns kurzfristig erleichtert, befreit, im Recht oder beruhigt und entspannter fühlen. Langfristig folgen auf diese Verhaltensweisen meist jedoch viel größere Probleme, als wir sie zu Beginn hatten: z.B. ein dicker Kater nach einem starken Rausch, wachsende Ängste, weil wir keine korrigierenden Erfahrungen machen, belastete Beziehungen, sowie auch Berge von Arbeit, die sich immer weiter türmen.
Wir können also festhalten: der Blick auf die langfristigen Folgen unseres Verhaltens kann ein sehr lohnender sein! Was also sind die möglichen langfristigen Konsequenzen des Jammerns? Welche Nebenwirkungen drohen uns dadurch?
Mir fällt dabei primär ein, dass wir uns durch ein andauerndes Jammern oftmals überhaupt nicht mit der Wurzel unseres beklagten Problems auseinandersetzen. Im schlimmsten Fall sind wir gar nicht auf der Suche nach einer Lösung unserer Probleme, sondern wir wollen „abladen“ und die Aufmerksamkeit unseres Umfeldes gewinnen. Wir sind in eine missliche Situation geraten, von der wir nicht das Gefühl haben, sie uns ausgesucht zu haben, oder sie bewältigen zu können. Und bei all den negativen Gefühlen, die in solchen Situationen aufkommen können, ist es in vielen Fällen der naheliegendste und der einfachste Schritt, erstmal zu klagen und dabei die Aufmerksamkeit unseres Umfelds einzustreichen, was zugegebenermaßen sehr gut tun kann.
Doch eine tatsächliche Strategie unser Problem anzugehen, bleibt oftmals aus. Dies passiert den meisten Menschen hier und da. Und solltest du dich jetzt gerade beim Lesen dabei ertappen, dass du gelegentlich genau diesem Muster folgst, ist dies nur menschlich und irgendwo normal. Schließlich sind wir keine Problemlöse-Maschinen, die nicht auch mal einen schlechten Tag haben und sich darüber Luft machen können.
Sollte jedoch unsere vorwiegende und dauerhafte Problemlösestrategie darin bestehen, dass wir jammern und klagen, und daraufhin gnadenlos passiv bleiben, dann haben wir wohlmöglich ein ziemlich großes Problem, das sich immer mehr auftürmt.
Man könnte an dieser Stelle nun argumentieren, dass viele Probleme am Ende nicht so wirklich lösbar sind: Wenn wir zum Beispiel krank werden oder Verluste erleiden, gibt es keine schnelle Lösung. Wäre dies nicht eine angemessene Situation, um zum Jammern zu greifen? Wenn es keine Lösung gibt, kann die Aufmerksamkeit, die uns beim Jammern zukommt, doch eigentlich ganz gut tun. Oder etwa nicht?
Auch hier fällt mir ein triftiger Grund ein, weshalb wir selbst in „ausweglosen“ Situationen nur in verdaulichen Dosen jammern sollten. Und zwar sehe ich den Grund in unserem Umgang mit unseren Emotionen. Allzu oft jammern und nörgeln wir Menschen auf einer Art „Metaebene“. Und mit Metaebene meine ich die Perspektive, dass wir von oben herab, auf verkopfte Art auf unsere Probleme herabblicken. Die große Bandbreite an aufkommenden Gefühlen, die man bei dem vorliegenden Problem spüren und zulassen könnte, wird weggedrückt. Das wiederum führt dazu, dass der Mensch sich in emotionsarmen Schilderungen seiner Probleme verlieren kann, ohne dass aufkommende Gefühle über die vorliegende Situation aktiv verarbeitet werden.
In solchen Momenten dient das Jammern einem ähnlichen Ziel, wie es das Grübeln tut: der Vermeidung von echten und wichtigen Gefühlen. Wir strampeln uns im Gespräch ab, ohne wirklich vorwärts zu kommen, wie ein Hamster im Rad.
Nachgewiesenermaßen kann man emotionale Probleme am besten lösen, wenn das Gefühl „aktiviert“ wird, wenn wir dem Gefühl nicht aus dem Weg gehen, sondern durch das Gefühl hindurch. Wenn wir dies berücksichtigen, sind wir auf einem achtsamen Weg, der uns langfristig weiterbringen kann. Solltest du dich also hier und da dabei erwischen, auf emotionale Art mit deinen Mitmenschen über deine Probleme zu sprechen, so handelt es sich in meinen Augen nicht um ein Jammern, das du dir abgewöhnen solltest. Durch ein aufrichtiges Gespräch können wir unsere Emotionen auf hervorragende Art verarbeiten. Und ich denke, dass wir ein solches achtsames und gefühlvolles Mitteilen von Gefühlen niemals als bloßes Jammern abtun oder uns gar abgewöhnen sollten.
Kommen wir somit zu meiner Definition von Jammern, die ich nach dieser Jammer-Fasten-Challenge entwickelt habe: und zwar sehe ich Jammern als einunachtsames, emotionsarmes und ausschweifendes Berichten von Dingen, die wir gerne anders hätten, jedoch nicht ändern können oder wollen.
Wenn man selbst oder Menschen um einen herum viel Jammern, erkennt man dies häufig daran, dass man sich zunehmend unwohl fühlt und das Gefühl hat, sich von einer Lösung oder von einem friedlichen Standpunkt immer mehr zu entfernen. Beim Jammern kommen positive Gefühle schlichtweg selten auf. Und sind es nicht die positiven Gefühle, die wir uns in unserem Leben so sehr wünschen? Und nach denen wir versuchen unser Verhalten anzupassen?
All diese Erkenntnisse, die ich insbesondere mithilfe von Peter und der wahnsinnig konstruktiven Community sammeln durfte, waren für mich sehr bewegend. Im Rückblick muss ich feststellen, dass gerade das Bewusstsein und die achtsame Wahrnehmung vom Jammern etwas sehr Tiefgreifendes in mir verändert haben.
Gespräche in denen non-stop gejammert wird, versuche ich durch betonte Zurückhaltung und Passivität ausklingen zu lassen. Vor der Challenge fühlte ich mich oftmals schlecht, wenn ich Jammer-Tiraden aus dem Weg ging, so als ob ich einem Menschen unrecht täte. Mit dem Wissen, dass der Jammerprozess nicht nur für mich als Zuhörer unangenehm ist, sondern auch für den Jammernden selbst (und zwar auf langfristiger Basis) nicht wirklich hilfreich ist, macht es deutlich leichter, mich bei einem andauernden Negativ-Talk auszuklinken.
Andere Menschen darüber zu belehren, dass sie jammern und dass dies nicht sehr hilfreich ist, mache ich nie bis selten. In gewissen Fällen kann es einer Bevormundung gleichkommen, völlig ungefragt andere Menschen mit den eigenen frisch gewonnen Erkenntnissen zu belehren. Sicher – hier und da bietet sich wohlmöglich die Gelegenheit dem jammernden Gegenüber einen vorsichtigen Spiegel vorzuhalten. Dies sollte man jedoch nur dann wagen, wenn eine ausgesprochene oder unausgesprochene Einladung, die eigene meine Meinung kundzutun, im Raume steht. Ansonsten wäre es wohl eine Art Kampf gegen Windmühlen jedem Menschen, der vor uns jammert, mitzuteilen wie ungünstig dies doch für ihn / sie ist.
Die größte Veränderung sehe ich nicht nur im Umgang mit meinen jammernden Mitmenschen, sondern vor allem mit mir selbst: Wieso exzessiv jammern, wenn es mir langfristig nicht wirklich viel bringt und für mein Umfeld eine Last darstellt?
Aber soll das nun heißen, dass ich überhaupt nicht mehr nörgeln oder klagen werde? Habe ich einen rigorosen Jammer-Stop vollzogen?
Wohl kaum, da ich recht bald schon feststellte, dass ich es mir nicht nehmen lassen wollte und konnte, mich spontan und ohne großes Abwägen über Dinge zu äußern, die mich unglücklich stimmen. Es gab und gibt weiterhin jene Tage, an denen ich schlichtweg nicht so gut drauf bin, mit dem falschen Fuß aufgestanden quasi. Während des laufenden Jammerfastens versuchte ich anfangs streng mit mir zu sein und mein angespanntes Innenleben für mich zu behalten. Mit ein wenig Achtsamkeit stellte ich jedoch bald schon fest, dass mein Bedürfnis, mich über meine Gefühle und Probleme mitzuteilen, immer deutlicher spürbar wurde – Meditation und Achtsamkeit hin oder her.
Das Jammerfasten hat bei diesem Dilemma sehr geholfen: Denn ich bin durch das Fasten, was ich mir vorgenommen habe, sparsamer mit meinen Klagen und mit meinem Jammern geworden. Ich bin wählerischer geworden, welchen Belastungen ich in Gesprächen Raum geben möchte. Und habe gelernt mir mehr und mehr darüber bewusst zu werden, welche Art von Kommunikation mir dabei hilft, meine Probleme lösungsorientiert mitzuteilen, ohne mich selbst und andere zusätzlich zu belasten. Hierdurch merke ich immer schneller, welche Probleme durch einen positiven Blick auf die Situation behoben werden können, und welche Probleme bestehen bleiben. Zeitgleich hat sich eine achtsame Stimme in mir entwickelt, die mich darauf aufmerksam macht, wenn ich Gefahr laufe durch einen Jammer-Anfall meine Stimmung und die der Anderen zu trüben, ohne einen großen Nutzen davon zu haben.
Insbesondere geht es beim Wälzen von Problemen wohl darum, immerzu auf dem Schirm zu haben, dass man selbst es ist, der langfristig dafür zuständig ist, das eigene Glück in die Hand zu nehmen. Niemand anderes ist dafür zuständig nach der Lösung meiner Probleme zu suchen. Nichtsdestotrotz kann ich meine Mitmenschen dazu einladen, mich auf dem Weg der Lösungssuche zu begleiten. Sowohl die Suche nach konstruktiven Lösungen, als auch das bloße Gespräch über Gefühle und Gedanken können sehr achtsame Prozesse sein und unserer Psyche guttun. Und genau dazu gehört in meinen Augen sehr viel Achtsamkeit, viel „Bei Sich Sein“, ein Beobachten dessen, was gerade passiert, eine Feststellung dessen, was unser Gefühl und unser Bedürfnis ist, sowie auch die Frage an sich selbst, wie man damit umgehen möchte.
Weniger Jammern, mehr konstruktives Gespräch über Probleme und Gefühle! Mehr Weitblick, mehr Achtsamkeit, weniger Instant-Gratification. Dies versuche ich seither noch stärker in meinem Leben und insbesondere in meiner Kommunikation umzusetzen.
Wenn wir also mit uns selbst achtsam sind, wenn wir ganz bewusst im Hier und Jetzt sind, dann sollte dies automatisch dazu führen, dass wir weniger jammern. Dass wir über unser Innenleben sprechen – wie es ein neutraler Beobachter tut – und zeitgleich nach einer Lösung suchen.
Und allein durch diese Erkenntnisse merke ich jetzt schon, nur wenige Monate nach der Challenge, dass mein Leben ein klein wenig glücklicher und zufriedener geworden ist. Und genau hierfür möchte ich mich bei Peter und unserer tollen Community ganz aufrichtig bedanken. Diese tolle gemeinsame Zeit hat mein Leben achtsamer gemacht und immens bereichert.
Ganz sicher sehen und lesen wir uns beim nächsten Mal wieder.
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